Ursprüngliches Interview Stern


Aktuell existiert ein Aufschwung der Romantik in der Populärliteratur, der besonders unter jüngeren Frauen zu beobachten ist.
Zeitgenössische Liebesromane mit expliziten Darstellungen von Sexualität gewinnen zunehmend an Beliebtheit. Dazu gibt es spannende Diskussionen in sozialen Medien, in denen sich eine begeisterte Community offen austauscht und gemeinsam Spaß hat.

• Frau Méritt, welche Bedürfnisse erfüllen Liebesromane, in denen es explizit auch um Sex geht?

Frauen, aber auch andere Lesende wollen gern Sexszenen lesen, die etwas genauer ausgemalt und durchaus explizit sind, und in denen sie selbst stärker verwöhnt und befriedigt werden. Wenn das Begehren noch mit Liebe oder Zuneigung kombiniert wird, kann das sehr erfreulich für die Leserin wirken. 

• Inwieweit sind Bücher ein Safe Space für Frauen, um über Sexualität zu lesen und Spaß daran zu haben?

In Schrift festgehaltene Sexualität ermöglicht nicht nur einen größeren Interpretationsspielraum. Es erlaubt auch Phantasien, die frau in der Realität vielleicht oder sicher nicht ausleben oder auch nur ausprobieren möchte. 

• Warum wird das heute öffentlich diskutiert und wurde früher heimlich verschlungen – was hat sich in den vergangenen Jahrzehnten geändert?

Die Unterscheidung zwischen Hoch- und Trivial-Literatur ist mittlerweile hinfällig. Viele Menschen bekennen sich zur Unterhaltungsliteratur, die durchaus anspruchsvoll sein kann, aber nicht muss. Sexszenen in Groschen- oder Liebesromanen zu lesen kann außerdem absolut Spass machen und erfreuen. Leichte Kost ist durchaus gesund und kann in verschiedensten Gemüts- oder Erschöpfungs- zuständen konsumiert werden. Bei Vielfachbelastung ist das eine wichtige Komponente. 

• Woran liegt das – ist weibliche Sexualität im gesellschaftlichen Diskurs noch immer schambehaftet?

Über weibliche Sexualität wird immer noch viel zu wenig gesprochen und vielen – mehrheitlich Frauen - fällt es immer noch schwer, in der eigenen Beziehung offen über Vorlieben, Wünsche und auch Abneigungen zu sprechen oder klar Bedürfnisse zu erkennen und zu benennen. Eingefahrene Muster auch im Bett aufzubrechen erfordert Mut, Selbstbewusstsein und den Willen beider Parteien, an der Beziehung zu arbeiten und Veränderungen gut zu heissen oder zumindest zuzulassen. 

• Stimmt es, dass Männer tendenziell eher visuell stimuliert werden (Porno) und Frauen eher über Worte (Kopfkino) – oder ist das ein patriarchalisches Vorurteil à la Mars-Venus?

Die Zuordnung sexueller Verhaltensweisen als männlich oder weiblich ist eine kulturell konditionierte, aus der wir aussteigen können. Deshalb haben wir PorYes - den Feminist Porn Award gegründet, in dem es um die Darstellung nicht diskriminierender, nicht stereotyper Sexualitäten geht. Die Betonung bei PorYes liegt auf der Freude aller Beteiligten, die einvernehmlich vielfältige Sexpraktiken ausüben. Kategorien wie beim Mainstream Porn lehnen wir ab, sie wirken normierend und machen Abweichungen zum Fetisch.

• Beeinflussen die Bücher, wie Frauen Sexualität ausdrücken und darüber sprechen – oder gibt es diese Bücher, weil Frauen offener geworden sind?

Beides. Die Frauen(gesundheits-)bewegung und der sexpositive Feminismus haben jahrzehntelang Vorarbeit geleistet, indem sie über die weibliche und generell über Sexualanatomie aufgeklärt haben, Ideologien aufgedeckt und auch eine andere Sprache jenseits der Scham eingefordert haben. Das macht sich jetzt bemerkbar. Cliteratur kommt stärker an und Sex aus anderen als herrschenden Perspektiven wird mehr publiziert. Frauen werden auch zunehmend als Zielgruppe ernst genommen, was auch zu einer stärkeren und kommerzielleren Verbreitung von Sexbüchern führt.

• Inwieweit geht es um Fantasien und nicht um reale Wünsche?

Fantasien können von den realen Wünschen abweichen und Sich in eine (irreale) Spielszene hinein zu projizieren befreit aus dem eigenem Schlafzimmer. Neben dem Gewohnheitssex mit sich selbst oder einer Partner*in, der ja gut und zuverlässig sein kann, ist dann der literarisch erotische Ausflug eine Abwechslung. Aber auch sexuelle Phantasien sind sozialisiert bzw. von der Mainstream-Kultur und von Pornos beeinflusst, daher wiederholen und vertiefen sich oftmals stereotype Skripte. 
Konsensuelles Vorgehen wird in der erotischen Literatur noch nicht so oft beschrieben, was wünschenswert wäre. In der Realität ist einvernehmliche Sexualität und sexuelle Kommunikation ein großes Lernfeld, auch um Übergriffe oder sexualisierte Gewalt zu verhindern. 

• Inwieweit kann offen ausgedrückte Begeisterung für Sex als Community-Erlebnis empowernd für Frauen sein?

Sich offen und schamfrei für Sex auszusprechen und sexpositiv zu leben bedeutet für Frauen auch heute noch, als Hure oder Flittchen stigmatisiert zu werden. Das ergeben aktuelle Studien und selbst auf Sex-Portalen spiegelt sich die Einteilung in Hure-Heilige wieder. Sich als Community hinter Frauen und ihre Lüste zu stellen, ist daher nicht nur solidarisch, sondern für alle Geschlechter und Gender befreiend.

• Inwieweit sind frei und begeistert über Sex in Büchern zu sprechen, diese Geschichten zu genießen und T-Shirts mit "I love Smut" zu tragen wichtige Statements für weibliche sexuelle Befreiung?

Als alleiniges Statement wird „I love Smut" o.ä. nur begrenzt dazu beitragen, weibliche Sexualität vom moralischen Reinheitskonzept zu befreien. Sich gegen einseitige oft essentielle Zuschreibungen von sog. „weiblichem" Sex zu wehren und selbstbewusst eine Vielfalt an sexuellen Praktiken und Verhaltensweisen zu befürworten, das unterstützt sicherlich das Herausfinden und Experimentieren mit dem Reichtum an Möslichkeiten. 

• Welchen Effekt kann das Lesen und Diskutieren dieser Bücher ggf. im realen Leben haben?

Diskussionen sind immer zuträglich, wenn Meinungen nicht nur individuell geäussert werden, sondern auch auf dem gesellschaftlichen und polit-ökonomischen Hintergrund geführt werden. Dazu gehören die Errungenschaften der Frauenbewegung wie des sexpositiven Feminismus, die durch die Parole „Das Private ist politisch" auch das Aussprechen von Intimitäten befördert haben, um das Strukturelle dahinter zu erkennen. „Wissen macht sexy" ist die weiterführende Formel des Freudenfluss Netzwerkes, das zum theoretischen wie praktischen Lernen von Sexualität aufruft. 

Dr. Laura Méritt, Sexologin und feministische Sex-Aktivistin, betreibt seit über 30 Jahren den feministischen und fairen Sexshop Sexclusivitäten und gibt Workshops und Seminare rund um die Vulva und die verschiedensten Sexualitäten.
Herausgeberin des Standardwerkes weiblicher Anatomie "Frauenkörper neu gesehen" u.a. Publikationen, führt mit dem Freudenfluss Netzwerk sdexualpolitische Kampagnen durch.